Sara Sadik zeigt neue Videoinstallation
Westfälischer Kunstverein
Sara Sadik. „Ultimate Vatos: Force & Honneur“. Ausstellungsansichten Westfälischer Kunstverein 2022. Courtesy die Künstlerin und Galerie Crèvecoeur, Paris. Foto: Thorsten Arendt
Ausgabe 2/2022
Unter dem Titel „Ultimate Vatos“ zeigt der Westfälische Kunstverein die erste institutionelle Einzelausstellung der in Marseille lebenden Künstlerin Sara Sadik (*1994 in Bordeaux, lebt und arbeitet in Marseille). Sadiks Videos, Performances, nehmen sowohl die Form von Mangas, Videospielen, Doku-Fiktionen als auch CGI-animierten Filmen an. Dabei erforscht die Künstlerin mit marokkanisch-algerischen Wurzeln Manifestationen dessen, was sie „Beurcore“ nennt – der Jugendkultur, die unter Mitgliedern der Arbeiterklasse in der nordafrikanischen Diaspora entstand. Beurcore definiert sowohl eine hybride Identität als auch eine kollektive Bewegung, die sich durch Musik wie Rap und Hip-Hop, Sprache, Mode, bestimmte Symbole und soziale Medien konstituiert. Mit Bezügen zu diesen spezifischen Zugehörigkeitsmerkmalen gelingt der Künstlerin eine scharfe und zugleich empathische Analyse von den sozialen Zwängen und Erwartungen an junge Erwachsene in einer postmigrantischen Gesellschaft. Letztlich geht es ihr um die Aufwertung sozialer Schichten, die zwar durch ihre Codes und Musik eine weiße Mehrheitsgesellschaft inspiriert, insgesamt jedoch wenig soziales Prestige genießt.
Im Zentrum der Ausstellung „Ultimate Vatos: Force & Honneur“, die eigens für den Westfälischen Kunstverein konzipiert wurde, erscheint eine Videoinstallation. Rücken an Rücken angeordnet sind die LED-Bildschirme von zwei langgestreckten Sitzgelegenheiten aus PVC umgeben. Das Display der Ausstellung erinnert damit etwa an eine antike Arena oder den Aufbau eines zeitgenössischen Fußballstadions. Den Mittelpunkt bildet die LED-Wand, die eine Show zeigt, bei der ein junger Mann, ein „Vatos“ (eine umgangssprachliche Bezeichnung für einen Mann aus dem Lateinamerikanischen, vergleichbar mit dem deutschen „Kerl“ oder „Typ“), zu sehen ist. Als Teilnehmer an einem militärischen Programm namens Ultimate Vatos: Force & Honneur, das der körperlichen und geistigen Ertüchtigung dient, verkörpert er die Figur eines perfekten Kämpfers. Ziel dieses Programms ist es, jungen Männern mit Hilfe von „Zehef“ – ein arabisches Wort, das „wütend“ bedeutet und im Französischen verwendet wird – die Möglichkeit zu geben, der „Ultimative Mann“ zu werden. Wie in ihrem vorherigen Film Khobtogone (2021), interessiert sich Sadik weiterhin für die Frage der Konditionierung der Identität durch das Prisma der Männlichkeit.
Angesiedelt zwischen The Hunger Games, einer Filmreihe nach Buchvorlage und einem fiktiven Survival Training im Reality-TV-Format, folgt die Videoarbeit dem Protagonisten beim Absolvieren von verschiedenen Prüfungen. Während er im Innenraum in einer Einzelzelle von den anderen Kandidaten isoliert bleibt und unter Beobachtung steht, muss er in einem unwirtlichen Außenbereich allein nach einer Fahne suchen. Das Video wurde unter Zuhilfenahme verschiedener Bildaufnahmeverfahren produziert wie Point-of-View-Shots, Handyvideos und mit einer 360°-Panoramakamera, die eine Vielzahl von Blickwinkeln bietet.
Im Laufe der Sequenzen wechselt die Atmosphäre von Beichtstuhlähnlichen confessionals (mit einer direkten Ansprache der Kamera) über Videospiele wie GTA, Videos in sozialen Netzwerken wie TikTok bis hin zu einem strengen Überwa- chungssystem. Insbesondere diese letzte Perspektive lässt den Druck spürbar werden, unter dem der Kandidat steht. Als Voiceover hören wir seine Stimme, die von seinen Empfindungen, von Einsamkeit, Stress und Ängsten spricht. Dieses Verfahren ermöglicht einen Perspektivwechsel und bietet, durch die personale Erzählweise, die Möglichkeit zur Identifikation mit dem Kandidaten. Dadurch eröffnet uns Sadik einen intimen Moment, den wir mit dem Protagonisten teilen, wodurch dieser in seiner ganzen Menschlichkeit offenbart wird. Die männlich gelesenen Merkmale wie Erfolg, Härte und Stärke, die die Organisation Ultimate Vatos stärken will, werden auf einmal in einem fast schmerzhaften Kontrast durch Verletzlichkeit, Unsicherheit und Melancholie ausgeglichen.
Wenn sich der Protagonist zu Beginn des Videos den Wunsch eingesteht einen Neuanfang zu wagen, liegt am Ende der wahre Sieg für ihn in der Anerkennung seiner eigenen Identität und nicht darin, zum ultimativen Menschen zu werden. Jenseits der Klischees und Stereotype, mit denen die Künstlerin spielt, erweist sich die Liebe zu sich selbst und zu den Seinen als eine Energiequelle und Form des Widerstands, die es ermöglicht, soziale Unterdrückung und Ausgrenzung zu überwinden.
Sara Sadik
26.03.–06.06.22
Westfälischer Kunstverein
Rothenburg 30
48143 Münster
Tel. 0251-46157
Mi–So 11–19 Uhr
www.westfaelischer-kunstverein.de